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Vom Glück, weinen zu dürfen

Wie wir mit den Tränen unserer Kinder umgehen können

Wenn ein uns nahe stehender Mensch traurig ist, mit den Tränen kämpft oder weint, dann ist unser erster und stärkster Impuls: Wir wollen trösten. Wir wollen möglichst schnell erreichen, dass unser Gegenüber wieder froh ist und mit den Gefühlsäußerungen, die uns berühren, aufhören kann. Wir wollen die Tränen wegmachen. Was aber löst das in unseren Kindern aus und gibt es noch andere Möglichkeiten mit Tränen umzugehen?

Unser Bedürfnis, zu „beruhigen“, zu trösten, zu helfen, äußert sich unterschiedlich. Fühlen wir uns unangenehm berührt, dann bemühen wir uns, das Weinen möglichst schnell und unauffällig zu beenden. Dabei übertragen wir unser Gefühl der Unsicherheit und des „Unangenehm-berührt-Seins“ durchaus auch auf andere und wollen mit dem Herstellen von Ruhe nicht nur uns, sondern auch die anderen Anwesenden entlasten. Manchmal geht unser Bemühen sogar so weit, dass wir zornig werden und unseren Babys und Kindern verbieten, sich lauthals zu äußern. Gelegentlich beobachte ich auch Eltern, die ihren Kindern mit Strafe drohen, wenn diese nicht sofort das Weinen einstellen.

Unser Gefühl der Hilflosigkeit macht uns zu schaffen. Gerade heute Morgen schenkte mir eine Freundin ihre Tränen, weil sie zutiefst verzweifelt war in ihrer Situation der Überforderung und der überwältigenden Schuldgefühle, die sie ihrem Sohn gegenüber hat, der autistisches Verhalten bis hin zu selbstzerstörerischen Handlungen zeigt. Ich hätte ihr so gerne geholfen und wusste doch, dass ich es nicht konnte.

Dieses Gefühl der Hilflosigkeit einfach anzunehmen und Sein zu lassen, ohne es möglichst schnell zu beenden, schenkte uns beiden innige Momente der Nähe und des Verstehens... einander und uns selbst. Wir waren für wenige Augenblicke jenseits des inneren Zwanges, unbedingt helfen zu müssen, irgendetwas tun zu müssen. Einfach zu sein, zu sehen, zu fühlen, anzuerkennen und ins Herz zu schließen. Einfach nur das. Und doch so vieles mehr... So einfach. Und doch so schwer. Manchmal ahne ich, dass die tiefsten Geheimnisse des Lebens sich im Paradoxen verbergen.

VomGlueckWeinenzuduerfen

Als würde man ein Geschenk entgegennehmen

Ich erinnere mich an eine Begebenheit in meinem Muttersein: Unsere Tochter wird wohl gut anderthalb Jahre alt gewesen sein. Wir hatten Besuch. Während ich in der Küche beschäftigt war, freute ich mich an den ausgelassenen Rufen und dem Lachen unserer Tochter und des Besuches, die aus dem Spielzimmer zu mir herüberschwappten. Plötzlich ertönte ein Schreien und ein bitterlich-empörtes Weinen: Ein Missgeschick war passiert und Anna hatte sich weh getan und war dabei sehr erschrocken. Ich setzte mich auf den Boden und nahm sie in die Arme, während sie bitterlich weinte und schrie.

Aber noch viel lauter als Annas Weinen drangen die aufgeregten Stimmen des Besuches an mein Ohr. Sie redeten und gestikulierten wild, um mir klarzumachen, dass „eigentlich gar nichts Schlimmes passiert sei, nur dieses und jenes, und das könne doch gar nicht so arg weh getan haben.“ Auch schien es mir so, als wollten sie sich gewissermaßen rechtfertigen, dass sie nichts für das Unglück könnten und dass sie sicher gut genug aufgepasst hätten, dass aber aus diesem und jenem Grund das Missgeschick dennoch passiert sei. Ich fühlte mich innig mit meiner Tochter verbunden, fühlte einfach ihren Schmerz, ohne selbst zu leiden, und nahm ihre Gefühle still aus vollem Herzen entgegen.

Ja, manchmal ist es ein Gefühl, als würde man ein Geschenk entgegennehmen. Kostbares Vertrauen wird demjenigen geschenkt, der den Schmerz liebend annehmen darf.

Laut, empört, frei, kraftvoll

In diesen Augenblick der Innigkeit drangen nun die aufgeregten Worte der umstehenden Erwachsenen wie Hammerschläge ein – ohrenbetäubend, Gefühle betäubend. Eine Sekunde lang schien sich meine Wahrnehmung geändert zu haben, ich dachte: Was schreien und gestikulieren die denn so rum? Ich verstand nicht. Vielleicht fühlte sich meine Tochter in diesem Moment ähnlich.

Schließlich platzte mir der Kragen und ich fuhr den Erwachsenen ziemlich unwirsch über den Mund: „Nun seid doch mal endlich still und hört einfach mal zu!“

Stille. Dann Annas Weinen. Laut, empört, frei, kraftvoll.

Ich schwieg und hörte einfach zu. Ich war einfach da. Dann nahm Anna ein paar Schlucke Trost – Milch am Busen. Meine Arme lösten sich, als Anna zu dem Ort des Unglückes tappste, um mir zu erzählen: „Da, da, bumm... aua!“ Ich folgte ihr, hockte mich hin und sah mir an, was sie mir zeigen wollte. Ich wiederholte das Geschehen in Worten, gab zu erkennen, dass ich meine Tochter verstanden hatte. Sie weinte noch ein, zwei Atemzüge lang, wischte sich dann die Tränen aus dem Gesicht und wandte sich neuen Abenteuern zu. In seiner Befindlichkeit vollkommen und tief wahrgenommen zu werden Für mich war es selbstverständlich gewesen, erst mal „zu Ende zuzuhören“ und den Strom der Gefühle nicht abzubrechen oder zu unterdrücken. Auch die Rückkehr an den Ort des Unglückes und das Erzählen des Geschehenen hatten sich ganz natürlich bei uns eingebürgert, als Anna begann, die ersten „Auas“ zu verarbeiten.

Die Missverständnisse rund ums Weinen beginnen bereits kurz nach der Geburt. Wir Eltern tun alles nur Mögliche, um unsere Babys zu beruhigen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Doch die Bedürfnisse eines so kleinen Wesens beschränken sich nicht auf die körperlichen Bedürfnisse. Darüber hinaus gibt es ein tiefes Bedürfnis des Menschen – 
und sei er noch so klein –, in seiner Befindlichkeit vollkommen und tief wahrgenommen zu werden.

Babys brauchen es, dass wir ihnen aktiv zuhören, dass sie ernst genommen werden in allem, was sie ausdrücken. Dieses bedingungslose und wertfreie Zuhören ist eine innere Haltung, die Eltern lernen können. Ich konnte viele Eltern dabei begleiten und habe gemeinsam mit den jungen Familien eine Fülle wunderbarer Erfahrungen machen können.

Ein ganz normaler, unspektakulärer Tag im Leben eines Neugeborenen ist heutzutage so unglaublich komplex und voller Eindrücke, die das Baby noch nicht einordnen kann und die deshalb zunächst einmal Angst machen. Hinzu kommt heute noch die irrsinnig hohe Belastung durch gepulste elektromagnetische Strahlung, die die Spannung im Körper extrem erhöht.

„Ja, erzähl mir, was Du fühlst...“

Irgendwann ist ein Punkt erreicht, wo all diese Spannung abgebaut werden möchte, und dann beginnt das Baby in einer Situation, in der es sich geschützt fühlt, zu weinen. Es will einfach all die Anspannung zunächst erzählen. Was passiert dann? Es wird beruhigt oder bekommt einen Schnuller in den Mund gesteckt. Es versucht immer wieder und wieder, seinen Kummer zu erzählen. Wieder und wieder macht es die Erfahrung, dass es nicht willkommen ist mit seinem Schmerz und mit seiner Empörung. Es lernt, dass der Versuch, sich über das Weinen zu entlasten, nicht gebilligt wird. Kinder versuchen sehr lange, dieses Ventil trotzdem zu benutzen. Die meisten geben irgendwann auf.

Was würde geschehen, wenn wir unsere Haltung grundlegend ändern würden? Sind alle körperlichen Bedürfnisse erfüllt, dann könnten wir unserem Kind oder unserem Baby einfach zuhören. Wir könnten es sanft, aber sicher in den Arm nehmen, ihm Augenkontakt anbieten und einfach aktiv zuhören. Auch – oder gerade – ein Neugeborenes versteht es, wenn die Mutter sagt: „Ja, erzähl mir, was Du fühlst... erzähl mir, was Dich bedrückt. Ich höre Dir zu... ich höre Dir zu, solange Du es brauchst..“ Sie signalisiert: „Danke für Dein Weinen, ich nehme es als Geschenk Deines Vertrauens entgegen...“

Meistens packen die Kleinen dann erst einmal richtig aus und drücken einen Weltschmerz aus, von dem man kaum glaubt, dass er in einer so kleinen Person Platz hatte. Sie weinen heftig und aus voller Seele und manchmal wehren und winden sie sich dabei. Oft kommt das Gefühl in Wellen, in Etappen. Ich selbst habe es oft genug erlebt, dass mir irgendwann auch die Tränen kamen, wenn meine Tochter ihren Schmerz ausdrückte. Vor allem in den ersten Wochen sind wir Mütter allen Gefühlen viel näher und daher berührbarer. Wir werden an die eigenen wortlosen seelischen Schmerzen erinnert, die in uns verschlossen ruhen. Damit in Berührung zu kommen ist nicht immer einfach.

Doch wie segensreich ist es, wenn Babys vom ersten Lebenstag an ihre Gefühle vollumfänglich ausdrücken dürfen und dabei die Information erhalten: „Du bist willkommen mit all Deinen Gefühlen... bedingungslos... so, wie Du bist, liebe ich Dich...“

Über die Autorin

Levka Soder ist Hebamme und Heilpraktikerin. Sie lebt im Dreisamtal bei Freiburg. Sie ist seit vielen Jahren freiberuflich rund um die Geburt tätig und beschäftigt sich insbesondere mit den sogenannten Schreikindern. https://www.hebammenweisheit.de und https://www.heilkunde-und-elternsein.de/

Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Januar 2010!

Bildnachweis: © https://www.photocase.de/fotos/69024-traene-kind-wange-kinn-stirn-trauer-erschrecken-erstaunt-photocase-stock-foto