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Wenn Kinder geboren werden, hört man meist Sätze wie: „Oh, es sieht ja wirklich der Mutter / dem Vater ähnlich!“ oder sogar weiter zurück zu den Großeltern. Offensichtlich hilft das allen, das ganz fremde Wesen, das da auf die Erde gekommen ist, zu integrieren in etwas das uns vertraut ist - oder zumindest bekannt, berechenbar erscheint.

Sehr viele Erziehungspraktiken haben die Funktion, diesem Neuling all das „beizubringen“ was hier so zur Grundausstattung der Lebensbewältigung gehört und ihm das abzugewöhnen oder auszutreiben, was nicht so recht in die bestehende Ordnung zu passen scheint. Manche Anteile der kleinen „Wilden“ werden sogar geächtet, sie sind „böse“, weil erheblich unerwünscht und betriebsstörend. Wutausbrüche und andere Arten der Selbstverteidigung werden mit für das Kind unangenehmen Auszeiten oder gar Ausschließen so lange missachtet, bis das Kind gefügig auf so lebenswichtige Äußerungen verzichtet und sich anpasst.

Das Alleine-Schlafen wird mit verhaltensstrategischen psychologischen Programmen dem Kind aufgenötigt, oftmals von Eltern, die sich zum Beispiel in Paarberatungen stets positiv über das gemeinsame Schlafen äußern und selbst nie in getrennten Zimmern schlafen würden. Das Kind hingegen soll das Alleine-Schlafen schon als Baby lernen - sonst fühlen sich die Eltern von dem nur natürlichen Bedürfnis nach menschlicher Nähe in der fremden Nacht, das ihr Kind durch Weinen ausdrückt, überfordert. Was für eine abwegige Deutung des kindlichen Wunsches nach Schutz und menschlicher Wärme! Sicherlich sind Züge an unseren Kindern festzustellen, die wir auch von uns oder unserem Partner oder unseren Eltern kennen. Aber jedes Kind bringt auch etwas Neues mit sich, ein Geheimnis, das wir im Zusammenleben erfahren und entdecken werden, aber doch nie ganz in das Bestehende hinein auflösen können. Das Kind lebt in die unbekannte Zukunft hinein. Es wird Aufgaben vorfinden, die wir selbst noch nicht einmal kannten. Es wird in eine Welt gehen, in der wir nur noch als Erinnerungen und als Vergangenheit vorkommen. Da wir nicht kennen, was auf sie zukommt, sollten wir ihnen auch das nicht nehmen, was sie vielleicht mitgebracht haben oder entwickeln können, wenn sie ihre ursprüngliche Ganzheit behalten durften.

Das Fremde, als solches benannt, wird mehr und mehr zum Vertrauten

Wir Eltern können nicht das Maß für unsere Kinder sein. Sie haben Teile von uns als Bausteine übernommen, wir sind die Matrix, aus der eine neue Gestalt hervorgegangen ist, mit einem eigenen inneren Entfaltungsplan.

In unseren Erlebens- und Reaktionsmustern findet sich die archaische Reaktion, Fremdes zunächst einmal abzulehnen und auszuschließen. Aber diese Tendenz können wir durch bewusste Wahrnehmung und neue innere Ausrichtungen und Intentionen abschwächen und umwandeln, auflösen, ebenso die automatische Angst, die das Fremde zunächst einmal auslöst.

Unser Kind ist nicht der wilde Tiger aus dem Busch, der uns gleich auffressen wird, wenn es einmal sehr laut brüllt oder um sich schlägt und nicht das will, was es sollte. Auch wenn es ungewöhnlich Vorlieben hat, merkwürdig erscheinende Gewohnheiten, ist es doch nicht psychisch gefährdet. Der Freiraum der Kinder darf ruhig etwas größer sein als der eines Erwachsenen, der täglich einen strengen Arbeitsalltag hat. Es ist ein Versuch wert, wenn wir mit unseren Kindern zusammen sind, einmal darauf zu achten, ob eine Verhaltensweise, ein Wesensmerkmal oder auch nur eine Redewendung uns ganz fremd erscheint. Wir können uns das dann ins Bewusstsein rufen, so wie bei der Achtsamkeitspraxis, „da nehme ich etwas Fremdes wahr, und das ist in Ordnung - ich nehme es an“. „Dies ist mein Kind. Es hat etwas mir Fremdes an sich“, oder ähnliche Formulierungen, so wie Sie sie persönlich ansprechend finden.

Ich bin ziemlich sicher, dass Sie diese Praxis, wenn es auch paradox klingt, Ihrem Kind näherbringt. Das Fremde, als solches benannt, wird mehr und mehr zum Vertrauten - und wenn wir es akzeptieren und leben lassen und nicht „wegerziehen“, kann unser Kind diese Wesensanteile selbst besser integrieren - und in seine eigene Ganzheit hineinwachsen.

Katharina Martin entwickelte die essentielle Gestaltarbeit, die es sowohl Kindern, als auch Erwachsenen ermöglicht, ihre ursprüngliche Natur (wieder) zu entdecken. Außerdem entwickelte sie die Fortbildungsreihe "Mit Kindern neue Wege gehen - Grundlagen der Gestalt-Arbeit im Leben mit Kindern" sowie das Programm Metaqualitäten, das Psychotherapie und Spiritualität verbindet.

Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Januar 2013.

Bildnachweis: © Johnny McClung/unsplash.com