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Ein Gespräch mit Myla und Jon Kabat Zinn

Eltern zu sein, ist eine der anstrengendsten Aufgaben die es gibt, vor allem wenn wir sie mit Sensibilität, Achtsamkeit und wirklicher Zuwendung für das neue Menschenwesen ausüben wollen. Endloses Windelwechseln, schlaflose Nächte, die Schwierigkeiten, alles Notwendige zu erledigen, ohne in Hektik zu verfallen, der Umgang mit den Einflüssen der Medien oder unserer Konsumgesellschaft - man könnte fast denken Kinder zu haben hieße, geradezu zu um Schwierigkeiten zu bitten.

Um so überraschender ist vor diesem Hintergrund die Vorstellung, das Familienleben als einen meditativen, spirituellen Weg zu sehen, als einen Weg der die Entwicklung von innerer Weisheit, Liebe und Mitgefühl ermöglicht. Und der gleichzeitig mit sich bringt, dass Kinder zu harmonischen ausgeglichenen Menschen heranwachsen können und auch die innere Kraft besitzen, sich und den Herausforderungen unserer Welt auf kreative Weise zu stellen.

Diese Auffassung vertreten Myla und John Kabat Zinn - und sie haben ein Buch geschrieben, um andere Eltern an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen. „Es war ein wunderbarer kreativer Prozess“, erinnert sich Myla. „Die gemeinsame Erfahrung des Elternseins zu nehmen, die Dinge, die uns jeweils am wichtigsten waren in eine schriftliche Form zu bringen und zu einem Ganzen zusammenzufügen, war zutiefst befriedigend.“ Das Buch, das in diesem Prozess entstand, ist außergewöhnlich reich an Einsichten und anschaulichen Geschichten und kann allen Eltern ob von kleinen oder schon erwachsenen Kindern helfen das Potential zu erkennen, das in ihnen und ihren Kindern liegt.

Was hat euch dazu veranlasst, dieses Buch zu schreiben?

Jon: Natürlich werden wir diese Frage verschieden beantworten - aber allem voran, Eltern zu werden hat uns von Anfang an zutiefst inspiriert. Wir betrachten es als Abenteuer, als etwas, auf das wir uns ganz bewusst einlassen wollten. Wir wollten diese Aufgabe mit so viel Achtsamkeit wie möglich angehen. Ich liebe Babys und als jemand der regelmäßig meditiert weiß ich, dass Meditation letztlich bedeutet, der Entfaltung von Erfahrungen Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Baby anzuschauen ist wirklich eine außergewöhnliche Erfahrung. Sie leisten tatsächlich erstaunliches, um uns zu zeigen, was sie für ihre Entfaltung von uns benötigen. Wenn wir gute Schüler sind und ihre Signale beachten, werden wir als Eltern wachsen.

Myla: Bevor ich selbst Mutter wurde, hatte ich nicht sehr viel Erfahrung mit Kindern. Aber als unser erstes Kind dann da war, wurde ich durch die enorme Kraft seines Seins in diese Erfahrung geradezu hineingezogen. Ich wollte meine Aufmerksamkeit ganz auf das Stillen und das Muttersein konzentrieren und je mehr Aufmerksamkeit ich gab, desto mehr innere Kraft erhielt ich selbst wieder zurück. Dabei wuchs auch meine Fähigkeit, mich in das Baby einzufühlen und zu spüren, was es von mir brauchte. Und dieser Prozess setzte sich fort, während unsere Kinder älter wurden. Wir erkannten, dass je mehr wir uns ihnen zuwandten - wobei wir uns darin übten, sie in jedem Moment ganz und gar als die anzunehmen, die sie waren, was eine harte Praxis ist - desto besser war es für sie und ihre harmonische Entwicklung. Sie anzunehmen, Empathie und das Bewusstsein ihrer grundlegenden Unabhängigkeit und Eigenständigkeit sind wirklich die Grundlage von dem, was wir mit der Praxis der Achtsamkeit in der Familie meinen. Diese Orientierung stellte sich sowohl für unsere Kinder als auch für uns selbst als sehr transformativ heraus, was für mich sehr überraschend war. Ich hätte nie gedacht, dass ich durch das Leben mit meinen Kindern so viel über mich selbst, die Kinder und die Welt lernen würde.

In eurem Buch schreibt ihr, dass Elternschaft dazu inspirieren kann, eine Art der inneren Arbeit zu tun, die nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern zugutekommt.

Myla: Wenn du dir erlaubst, inspiriert zu sein - wenn du dir erlaubst, ganz präsent und auf dein Kind eingestellt zu sein, erwächst diese Inspiration aus der Beziehung und aus der Reinheit seines Seins. Kinder werden sehr vertrauensvoll und rein in diese Welt geboren und es ist unsere Aufgabe, sie zu schützen, zu näheren und zu begleiten.

Jon: Eltern zu werden birgt auch den Ruf zum Erwachen in sich, die Möglichkeit aus dem üblichen automatischen unbewussten und unbefriedigenden Zustand zu erwachen, in dem wir einen Großteil unserer Zeit verbringen. Eltern zu werden ist eine wunderbare Gelegenheit für uns, weniger mechanisch zu werden und nicht so viel Zeit an der Oberfläche unserer Erfahrung zu verbringen, sondern uns unseren Kindern voll und ganz zuzuwenden, unsere Beziehung zu ihnen bewusst zu pflegen und uns dafür zu entscheiden, das im Auge zu behalten, was uns im Leben wirklich wichtig ist.

Myla: Vor allem, wenn die Kinder älter werden, kann es leicht geschehen, dass unser Leben ziemlich hektisch wird und wir von dem Gefühl gefangen genommen werden, ständig etwas tun, regeln oder organisieren zu müssen. Die innere Arbeit der Achtsamkeit ruft uns dazu auf, immer wieder unter die Oberfläche zu schauen, so dass der Aspekt des Seins unter all dem Tun nicht verloren geht.

Jon: … und unter dem Zauberbann, in den wir geraten. Es ist eine Einladung, in unsere Erfahrung einzutauchen und dann das Tun aus dem Sein entstehen zu lassen. Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie ist eine eigene spirituelle Praxis, und zwar eine von besonderer Tiefe.

Was meinst du mit „Zauberbann“?

Jon: Im Buch erzählen wir auch einige Märchen. Geschichten in denen Menschen unter einen Zauberbann geraten. Dies ist eine Metapher, denn wenn du deine Kinder anschaust, kannst du dich auch manchmal fragen: „Was ist nur über sie gekommen - sie sind ja wie verhext?“. Und sehr oft wirst du auch bemerken, dass es nicht nur die Kinder sind, die manchmal verhext zu sein scheinen: „Was ist bloß über mich gekommen?“

Es hat mich sehr beeindruckt, mit welcher Freimütigkeit ihr nicht nur über eure „Erfolge“ als Eltern geschrieben habt, sondern auch über eure Schwierigkeiten. Ist es euch schwer gefallen, eure schwierigen Momente so offen und ehrlich mitzuteilen?

Myla: Nun, natürlich ist es nicht leicht, über schmerzliche Erfahrungen zu schreiben. Aber wir empfanden es als sehr wichtig, zu zeigen, dass wir auch nur Menschen sind, dass wir auch ständig mit uns ringen und dass es uns auch nicht einfach so zufällt, achtsam im Umgang mit unseren Kindern zu sein. Es ist eine ständige innere Arbeit, und manchmal ist es einfach schwierig. Achtsamkeit in der Familie hat nichts damit zu tun, dass wir perfekte Eltern sind. Vielmehr geht es darum, in jedem Moment zu versuchen, unser Bestes zu geben und, wenn wir wirklich einmal etwas getan haben, was nicht richtig war, dies wahrzunehmen, es uns anzuschauen und vielleicht Wege zu finden, das nächste Mal anders mit einer solchen Situation umzugehen. Wir sehen dies alles als einen Prozess, der nicht nur beinhaltet, dass wir unsere Kinder so annehmen, wie sie sind, sondern auch uns selbst -, dass wir nicht nur mitfühlend mit unseren Kindern umgehen, sondern auch mit uns selbst. Es ist sehr heilsam, wenn wir unsere Kinder und uns selbst nicht ständig beurteilen. Ich glaube, dass wir allzu oft einen harten und mächtigen Richter in uns haben, der uns das Leben schwer macht und sich oft auch auf unsere Kinder auswirkt. Über unsere Schwierigkeiten im Umgang mit unseren Kindern zu schreiben, ist also nicht so sehr ein Zeichen der Bescheidenheit, sondern wir empfinden es als sehr wichtig.

Jon: Wenn wir nicht realistisch blieben, wäre das sehr irreführend. Wir würden vorgeben, dass es da einen Weg gäbe, der das Leben mit Kindern völlig harmonisch sein lässt, und dass es, wenn man nur alles richtig macht, weder Streit noch Auseinandersetzungen in der Familie gibt. In Wirklichkeit kann es im Familienleben jederzeit zu chaotischen Zuständen kommen, oder wir haben sogar das Gefühl, dass jeden Moment die Hölle losbricht, und wir empfinden es als sehr wichtig, zu erkennen, dass wir dem mit Achtsamkeit begegnen können - unseren eigenen emotionalen Reaktionen, unseren Ängsten unserer eigenen Härte und Selbstgerechtigkeit. Wenn all dies nicht beachten, so werden uns all diese Impulse und unbewussten Kräfte lenken - mit sehr unheilsamen Folgen für die Beziehung zu unseren Kindern und für unsere eigene Entwicklung als menschliche Wesen.

Wann habt ihr bemerkt, dass das, was ihr im Umgang mit euren Kindern zu leben versucht habt, etwas mit Achtsamkeitspraxis zu tun hat?

Myla: Ich war mir von Anfang an bewusst, dass ich in einen ganz besonderen Prozess hineingeraten war, hatte dafür aber zunächst noch keinen Namen. Als ich begann, diesen Prozess zu beschreiben, wurde mir sehr schnell klar, dass es um Achtsamkeit ging. Aber ich glaube nicht, dass ich ihm diesen Namen gegeben habe.

Jon: Nun, für mich war das, glaube ich, anders als für dich. Ich beabsichtigte von Anfang an, aus meiner Meditationspraxis heraus Vater zu sein, und wollte das zu einem wesentlichen Teil meines Lebens machen. Was ich sehr schnell bemerkte, war, dass Myla, obwohl sie sagt, dass sie nicht viel über Elternschaft nachdachte, bevor sie nicht selbst Mutter wurde, während ich von Anfang an gerne Vater werden wollte, in großem Ausmaß meine Lehrerin wurde. Sie hat die natürliche Fähigkeit, auf eine Weise in Beziehung zu treten, die sehr bewusst und sehr feinfühlig ist. Das heißt, wir lernen also nicht nur von unseren Kindern, sondern auch aus unserem eigenen Prozess des Fragens und Wahrnehmens sowie voneinander. Obwohl ich glaube, dass ich weit mehr von Myla gelernt habe als sie von mir. Könntest du das bestätigen?

Myla, lachend: Ich glaube, es ist wie meistens, man lernt verschiedene Dinge.

Meinst Du, man lernt, was man lernen muss?

Myla: Ja, danke!

Wenn ihr also einen Rat an werdende Eltern hättet, wie sähe der aus?

Myla: Zu versuchen, die Dinge mit den Augen des Kindes zu sehen. Für mich ist damit ein Großteil dessen abgedeckt, was wirklich wichtig ist. Wenn Eltern anfangen, die konkrete Erfahrung ihres Kindes zu beachten, wenn Sie versuchen, wirklich aus der Sicht des Kindes zu schauen, können sich die Dinge ändern. Das wäre mein Rat.

Und deiner, Jon?

Jon: Ich würde sagen, dass man sich vergegenwärtigen sollte, wie schnell diese ganze Sache vorbeigeht. Wenn man Vater oder Mutter wird, hat man das Gefühl, eine unendliche Geschichte vor sich zu haben, aber bevor man sich versieht, sind die Kinder aus dem Haus und stehen auf eigenen Beinen. Mir ist es wichtig das innere Potential der Kinder zu respektieren, sich aus sich heraus zu entfalten, sich ihnen wirklich zuzuwenden und sie auf ihrem Weg in die Welt achtsam zu begleiten. Ich empfinde es als sehr wesentlich wahrzunehmen und sich zu erinnern, dass dieses kleine Wesen - oder dieses große Wesen -seine eigene Welt hat, die nicht die unsere ist. Und dass unser Blickwinkel nicht der einzige ist, nur weil wir größer sind. Wenn wir einen Schritt aus uns heraustreten und uns in den Herzensraum, der zwischen uns und unseren Kindern besteht, begeben, eröffnet dies Möglichkeiten, die wirklich wunderbar sind.

Vielen Dank für das Gespräch.

Myla Kabat-Zinn arbeitete vor allem im Bereich Geburtsvorbereitung und als Geburtsbegleiterin. Für viele Jahre war sie Vizedirektorin von Birth Day, einer Organisation zur Unterstützung von natürlichen Geburten.

Jon Kabat-Zinn ist Professor Emeritus für Medizin an der University of Massachusetts Medical School und Begründer des Center for Mindfulness in Medicine, Health Care, and Society. In seiner Forschungskarriere konzentrierte er sich auf die Geist/Körper-Interaktionen bei der Heilung und den klinischen Anwendungen des Achtsamkeitstrainings für Menschen mit Stress verbundenen Störungen. Die Arbeit von Jon Kabat-Zinn hat zu einer wachsenden Bewegung beigetragen, durch die Achtsamkeit in Krankenhäusern, Schulen, und Unternehmen angewendet wird. Er ist Autor zahlreicher Bestseller, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden. 

Jon & Myla Kabat-Zinn sind Eltern von drei Kindern. In ihrem gemeinsamen Buch Mit Kindern wachsen - Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie zeigen sie, wie Achtsamkeit das Leben mit Kindern bereichern und zu einem Weg von Tiefe und Weisheit werden kann.

Das Gespräch führte Lienhard Valentin. Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Special Achtsamkeit.

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