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Freundschaft schließen mit uns selbst

In unserer Arbeit im Verein „Mit Kindern wachsen“ geht es immer wieder darum, wie wir uns in Kinder einfühlen und sie achtsam ins Leben begleiten können. Dabei kann es leicht geschehen, dass wir uns mit den hohen Ansprüchen an uns selbst das Leben schwer machen.

Wir fühlen uns vielleicht stark angesprochen von einem solch achtsamen Umgang mit Kindern, entwickeln entsprechende Vorstellungen, wie das in unserer Situation idealerweise aussehen sollte – aber irgendwie scheinen wir dieser Vorstellung nie zu genügen. Es läuft einfach nicht so, wie wir es gerne hätten, und das obwohl wir uns doch so bemühen.

Wenn wir Achtsamkeit, Liebe und Mitgefühl in unser Leben mit Kindern bringen möchten, geht es jedoch ganz und gar nicht darum alles richtig zu machen, perfekt zu sein und ständig lächelnd, entspannt und erleuchtet durch den Alltag zu schweben. Wir selbst sind maßgeblich geprägt durch unsere eigene Geschichte und wir beginnen dort, wo wir sind – wo sonst sollten wir auch beginnen?

Unsere Sicht der Welt und unser Selbstbild

Wenn wir die Aufmerksamkeit darauf richten, was sich in unserem Innenleben abspielt, erkennen wir schnell, dass wir nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit uns selbst kommunizieren. Wir haben vielleicht alle möglichen Erwartungen, wie sich die Menschen in unserer Umgebung uns gegenüber verhalten sollten – freundlich, einfühlsam, achtsam, respektvoll oder wie auch immer –, aber selten schenken wir der Art und Weise Aufmerksamkeit, wie wir eigentlich mit uns selbst umgehen. Dem einmal nachzuspüren kann ein spannendes und lohnendes Forschungsprojekt sein.

Von klein auf machen wir Erfahrungen mit den Menschen, die sich um uns gekümmert haben – meist vor allem die Eltern, aber auch andere Personen, die eine Rolle in unserem Leben gespielt haben. Unser Selbstbild und Selbstgefühl entwickeln sich vor allem aus der Art und Weise, wie unsere Umwelt auf uns reagiert und aus den Schlüssen, die wir aus diesen Reaktionen gezogen haben. Ebenso übernehmen wir unbewusst Haltungen und Einstellungen dem Leben gegenüber. Laut den Forschungen der so genannten Epigenetik – einem neuen Zweig der modernen Biologie – werden die grundlegenden Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen tief in den synaptischen Verbindungen unseres Unterbewusstseins verdrahtet und steuern uns für den Rest unseres Lebens – wenn wir uns ihrer nicht bewusst werden und uns gegebenenfalls anders entscheiden. Diese Speicherung geschieht sehr früh und ganz automatisch und diese Lebensskripte prägen unsere Sicht der Welt und unser Selbstbild – in die eine oder die andere Richtung.

In die Falle geraten und Kinder als Projekte sehen!?

So erzählt der Meditationslehrer Jack Kornfield die Geschichte, dass sich der Buddha nach langen Jahren der Askese und des harten spirituellen Trainings an seine frühe Kindheit und die liebevolle Fürsorge, die ihm dort gewährt wurde, erinnerte. Dies führte zu der Erkenntnis, dass die strenge Enthaltsamkeit nicht förderlich ist. Er begann wieder zu essen und erlangte schon bald darauf die Erleuchtung. Leider können nicht sehr viele Menschen auf solche Erfahrungen zurückgreifen. Die Botschaften, die wir verinnerlicht haben, sind recht unterschiedlich – aber nur sehr selten lauten sie, dass wir liebenswert sind und eine Freude für unsere Eltern. Vielleicht mussten wir um Aufmerksamkeit kämpfen und haben so das Gefühl, nie gut genug zu sein – ein Muster, das uns besonders zu schaffen machen kann, wenn wir selbst Eltern werden, da wir unseren Ansprüchen nie genügen können.

Vielleicht sind wir sehr engagiert und geraten in die Falle, unsere Kinder zu einer Art Projekt zu machen. Schließlich leben wir in einer produktorientierten Gesellschaft und dies führt häufig dazu, dass Eltern ihre Kinder als ihr „Produkt“ sehen, das sie dann mit anderen Produkten vergleichen. Wenn sie sich nicht so entwickeln, wie wir uns das vorstellen, führt das leicht dazu, dass entweder die Kinder oder wir „schuld“ sind – und beides kann sich verhängnisvoll auf die Beziehung auswirken.Vielleicht haben wir aber auch das Gefühl, nicht wirklich wichtig zu sein, dass wir uns am besten unsichtbar machen, um gut zu überleben. Oder wir haben ständig Angst, was die anderen – seien dies die eigenen Eltern, Verwandte, Freunde oder Nachbarn – dazu sagen, wie wir mit unseren Kindern umgehen oder wie diese sich verhalten. Ein solches Muster kann es uns ebenfalls sehr schwer machen, unseren eigenen Weg zu gehen und zu uns und unseren Kindern zu stehen.

Mehr Lebensfreude und besseren Beziehungen

Andere Muster wiederum führen dazu, dass es uns schwerfällt, es uns gut gehen zu lassen. Irgendwie scheint es nicht in Ordnung zu sein – vielleicht haben wir auch das Gefühl, das nicht zu verdienen – oder es gibt so eine Stimme in uns, die ständig etwas an uns auszusetzen hat, die ständig urteilt und das nicht gerade sehr einfühlsam. Auch ein mangelndes Selbstwertgefühl kann uns daran hindern, unseren Kindern offen und gelassen zu begegnen. Wenn wir bei allem, was nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen, ängstlich, unsicher oder ungeduldig und wütend werden, sind wir nur schwer in der Lage, wirklich zu sehen, was ein Kind oder eine Situation von uns braucht.

Solche Muster prägen sich schon in frühester Kindheit aus und sind nicht leicht aufzulösen – aber es ist sehr lohnend, diesen Mustern auf die Spur zu kommen. Aus diesem Grund spielt das Thema „Freundschaft schließen mit uns selbst“ in unserer Arbeit mit Eltern eine wichtige Rolle.Vor allem die Praxis der Achtsamkeit kann eine große Hilfe sein, solche negativen Muster zu erkennen und eine wohlwollende und mitfühlende Haltung uns selbst gegenüber zu entwickeln. In dem Maße, wie dies gelingt, werden wir gelassener, flexibler, offener und können sehr viel einfühlsamer und kreativer auf die Bedürfnisse unserer Kinder eingehen – und dies wiederum führt zu sehr viel mehr Lebensfreude und besseren Beziehungen.

Auch unsere Kinder wollen, dass wir glücklich sind – sie haben keinerlei Interesse daran, dass wir uns das Leben schwer machen. Sie möchten, dass sie eine Freude für uns sind und dass auch unser Zusammensein von gemeinsamer Freude geprägt ist. Wie Daniel Siegel in seinem Buch „Das achtsame Gehirn“ aufzeigt, zeigen neueste Forschungen, dass das wohlwollende Gewahrsein, das in der Praxis der Achtsamkeit geübt wird, die Struktur unseres Gehirns verändern kann – sogar das Glückszentrum in unserem Gehirn kann wachsen.

Instant Meditation und kleine Forschungsprojekte

Egal, wie unsere Geschichte aussieht und wo wir heute stehen – wir können uns bis in unsere Biologie hinein verändern.

Als erster Schritt auf diesem Weg hat sich eine kleine Übung bewährt, die wir „Instant Meditation“ genannt haben. Sie dient dazu, kurz innezuhalten und mit einem wohlwollenden Interesse immer mal wieder bei uns selbst vorbeizuschauen. Wir können uns auch mit unserem eigenen Vornamen innerlich ansprechen und fragen, wie es uns geht. Und so, wie wir einem guten Freund oder einer guten Freundin zuhören würden, hören wir uns selbst zu.

Wir erwarten nicht einfach, dass wir funktionieren, sondern versuchen auch unseren eigenen Bedürfnissen nachzugehen. So finden wir leichter Möglichkeiten, uns selbst zu unterstützen, uns auf gute Weise um uns selbst zu kümmern.

Als zweiten Schritt können Sie sich eine Art Tagebuch oder Forschungsjounal zulegen, in dem wir kurze Notizen aufschreiben, was wir jeweils entdeckt haben. Wie finde ich mich vor? Gestresst? Ungeduldig? Angespannt? Müde? Erschöpft? Froh? Zufrieden? Glücklich? Dabei ist es wichtig, uns nicht zu be- oder gar zu verurteilen, sondern einfach wohlwollend zu registrieren, was wir vorfinden. Wie klingt die Stimme, mit der wir zu uns selbst sprechen? Erinnert mich die Qualität meiner Beziehung zu mir selbst an eine Beziehung aus meiner Kindheit? Wenn ja, an welche? Wie wäre es – wie würde es sich anfühlen, wenn ich mein eigener Freund beziehungsweise meine eigene Freundin wäre? Weitere Fragen, denen nachzugehen lohnend sein könnte: Wie hätte mich mein Vater als Kind beschrieben? Wie meine Mutter? Was hätte ich mir besonders gewünscht, wenn ich meinen Vater bzw. meine Mutter in einem Punkt hätte ändern können?

Dies sind keine Prüfungsfragen, bei denen es darum geht, die richtige Antwort zu finden, sondern kleine Forschungsprojekte, die uns vielleicht helfen können, uns der Qualität unserer Beziehung zu uns selbst bewusster zu werden und sie Schrittchen für Schrittchen zu verbessern. Schon dieses wohlwollende Interesse für unser Innenleben hat eine heilsame Wirkung.

Wir beginnen, eine freundliche Haltung uns selbst gegenüber zu kultivieren – und auch dann, wenn wir keine schnellen Ergebnisse erwarten können, wird dies ohne jeden Zweifel Früchte tragen. Und in dem Maße, wie wir mit uns selbst in Frieden sind, wird auch die Beziehung zu unseren Kindern von mehr Achtsamkeit, Einfühlungsvermögen und Mitgefühl geprägt sein.

Lienhard Valentin ist ein international bekannter Achtsamkeitslehrer, Gestaltpädagoge, zertifizierter MSC-Lehrer (Mindful Self-Compassion) und Buchautor. Er gründete den Arbor Verlag, den Verein Mit Kindern wachsen und die gemeinnützige Arbor Seminare gGmbH. Sein Schwerpunkt liegt in der Integration von Achtsamkeit und Mitgefühl ins tägliche Leben – vor allem auch von Eltern und Pädagogen.

Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Sonderheft "Säugling und Kleinkind"

Bildnachweis: © Tattyan/unsplash.com