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„Ich weiß es nicht“: Diese vier Worte haben sich vor vielen Jahren in meine pädagogische Seele eingebrannt, als ich es im Kindergarten mit zwei Jungs zu tun hatte, die eine schwierige Dynamik miteinander hatten. Sie ist wohl am besten mit der Liedzeile der irischen Rockband U2 zu beschreiben: „I can‘t live... with or without you“. Sie konnten nicht mit und nicht ohne einander.

With or without you

Immer wieder schien es so, als würden die beiden gut miteinander spielen. Es schien, als bräuchten sie keine Menschenseele, und da es immer auch den ein oder anderen Hotspot zu betreuen gibt, ist man als Pädagoge froh, wenn man mal zwei über einen längeren Zeitraum sich selbst überlassen konnte. Aber der „Friede“ war trügerisch. Noel war sprachlich sehr gewandt und konnte einen um den Finger wickeln oder einem das Blaue vom Himmel erzählen. Josef dagegen war sehr schweigsam, manchmal wusste man nicht, was in ihm vorging. Wenn man sein Ohr länger bei den beiden hatte, bekam man mit, dass Noel dem Josef manchmal ziemlich auf die Pelle rückte, ihn herausforderte, vielleicht auch weil ihn sein „Geheimnis“ einfach interessierte. Jedenfalls lohnte es sich, die beiden nicht zu lange sich selbst zu überlassen, um nicht plötzlich wie ein Sonder-Einsatzkommando bei einer handgreiflichen Auseinandersetzung intervenieren zu müssen.

An diesem besagten Vormittag wohnte ich ihrer Dynamik nur mit halber Aufmerksamkeit bei. Ich merkte nur, dass Noel wieder ständig auf Josef einredete und Josef nichts sagte, was bis an mein Ohr gedrungen wäre. Schon öfter hatte ich ihn dazu aufgefordert, gut zu spüren, ob ihm Noel zu viel wurde und es notwendig war, ihm zu sagen, dass er jetzt lieber alleine sein möchte. Nun ging das also schon wieder los, zog sich wie ein alter Kaugummi in die Länge, und mir platzte recht schnell der Kragen. Ich setzte mich zu den beiden, frontal gegenüber Josef und sagte ihm auf den Kopf zu: „Ich möchte jetzt wissen, ob du mit Noel spielen willst oder nicht. Der Noel lässt nicht locker und redet ständig auf dich ein und ich hör nichts von dir!? Willst du jetzt mit ihm spielen oder nicht – Ja oder Nein!?“, setzte ich ihm beinahe das Messer auf die Brust… Josefs Reaktion: Er schaute mich mit großen, fast verzweifelten Augen an und flüsterte beinahe: „I woaß es net.“ Immer wenn ich das erzähle, läuft es mir heute noch kalt den Buckel runter. Ich fühlte mich so daneben…

Wahrheit und Ignoranz

Was war passiert? Wenn ich heute darüber nachdenke, kommt mir sofort: Ich war so ignorant. Hier war es ausgerechnet Josef, der seine Wahrheit mit Worten ausdrückte, während ich „die Wahrheit nicht wissen oder erkennen wollte“, was lateinisch „ignorare“ bedeutet. Seine Wahrheit war: „Ich bin in einem Zwiespalt. Ich möchte so gerne mit Noel spielen, aber irgendetwas geht so schwer mit ihm. Ich möchte doch spielen, aber irgendetwas ist mir hier viel zu viel.“ Es war eben nicht so einfach, wie wir uns das als Erwachsene mit Kindern gerne machen: „Kann doch nicht so schwierig sein, Mensch! Sag doch einfach Ja oder Nein – dann kennen sich alle aus!“ „Aber wie könnte ich nein sagen, wenn ich doch spielen will. Und wie könnte ich ja sagen, wenn ich doch auch zu keinem Ja finden kann,“ hätte Josef erwidern können.

Der Erwachsene (ich) ist hier wieder mal der Begriffsstutzige, nicht das Kind

Dabei kenne ich solche Situationen doch selbst! Wie schwierig sind oft kleine Entscheidungen! Und wie schwierig erst größere! Gerade in Freundschaften und allen Beziehungen müssen wir die Gratwanderung lernen, uns zu öffnen und uns zu schließen. Rebeca und Mauricio Wild, Pioniere einer Pädagogik, wie wir sie heute leben und wozu wir in der Zeitschrift "Mit Kindern wachsen" inspirieren wollen, verwendeten immer das Bild aus der Biologie von der halbdurchlässigen Membran einer Zelle. Wir müssen immer wieder herausfinden, was wir in unser Leben herein- und was wir besser draußen lassen. Dieses Thema konnte auch Jesper Juul so wunderbar beschreiben: Er sagte einmal sinngemäß, dass wir mit unseren Kindern Leute haben, die oft genug über unsere Grenzen treten, damit wir überhaupt merken, dass wir und wo genau wir unsere, oder besser: unsere aktuelle persönlichen Grenzen haben! Dann gehe es darum, dieses Übungsfeld anzunehmen und immer wieder eine Art „Nein“ zu versuchen, bis es langsam, aber sicher zu einem liebevollen aber klaren „Nein“ reifen könne oder bis wir unsere Grenze eventuell auch verändern können. Und von den Kindern erwarte ich das schon mit vier oder fünf Jahren!?

Ich will mich nicht selbst niedermachen. Aber es geht darum zu erkennen: Hier war wieder mal der mit der schnellen Lösung am Zug. Beim Kinderbuchautoren Janosch ist es der „Hase mit den schnellen Schuhen“. Hier war wieder mal der Aufräumer und (Schnell-Weg-)Macher unterwegs, anstatt zu erkennen: „Störungen haben Vorrang!“ Solche Störungen sind eine wunderbare Gelegenheit, mit den beiden Jungs tatsächlich ins Gespräch darüber zu kommen, was es denn so schwer macht. Und ich bin mir sicher, dass es möglich gewesen wäre, sie behutsam in diesem Prozess zu begleiten, der eben nicht – schon gar nicht schnell! – zu einer Lösung führen muss, sondern der es möglich macht, „tief zu schauen“ wie Thich Nhat Hanh seine Achtsamkeit beschreibt. Wann immer wir uns Zeit nehmen, tief zu schauen und Zusammenhänge, Aspekte, Wahrheiten sehen zu wollen, braucht es so etwas wie eine „Lösung“ meist gar nicht mehr. Dort entsteht sie wie von selbst.

Die Kraft der Geduld

Ist das die Kraft der Geduld? In dieser Sicht liegt Geduld nicht darin, das Konflikthafte, die Schwierigkeiten, die Probleme einfach „auszuhalten“ und zähneknirschend abzuwarten oder durchzuhalten. Sie liegt vielmehr darin, die Kunst der Präsenz zu üben, die nicht machen muss, die (zunächst) nichts wissen und lösen muss, sondern einfach (?) da sein kann, hell-wach, mit lebendigem Interesse und wohl-wollend, arglos. Es ist nichts Verkehrtes an Josef, der hin- und hergerissen ist. Es ist auch nichts Verkehrtes an Noel, der Josef herausfordern will, um ihn besser spüren zu können. Es ist nichts falsch daran, dass die beiden einander und sich selbst in diesem Prozess kennenlernen können. Und ich sie. Und mich selbst auch. Immer wieder dieses Staunen: Es ist so schlicht immer wieder nur diese Qualität hell-wacher Gegenwärtigkeit, die hier nottut.

Steve Heitzer ist Vater von drei Kindern und lebt in Innsbruck. Seit 20 Jahren arbeitet er als Achtsamkeitslehrer, Referent und Retreatleiter mit Kindern, Eltern und Familien. Mehr über Steve erfährst Du auf seiner Website www.steveheitzer.at.

Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft April 2021

Bildnachweise: © Garrett Jackson/unsplash.com