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Weniger tun – mehr erfahren

Eine der großen Herausforderungen des Elternseins besteht immer wieder darin zu entscheiden, in welchen Situationen wir eingreifen und handeln müssen und in welchen es hilfreich ist, einmal abzuwarten und unserem Kind, seinen Kräften oder dem Leben selbst zu vertrauen. 
In unserer westlichen Kultur strebt vieles nach Tun. Einfach da zu sein, wahrzunehmen, zu sitzen, zu atmen und zu schauen ist für viele Menschen etwas sehr Fremdes und es kann sein, dass wir als Eltern für ein solches Verhalten auch Unverständnis ernten.

Gerade im Umgang mit Kindern glauben Erwachsene oft die Lösungen zu kennen. Wenn ein Kind anfängt zu greifen, wenn es die ersten Klötzchen auf einander stapelt oder versucht seine Schuhe anzuziehen wissen wir ja schon „wie es geht“, auch wie es noch „schneller geht“. Wenn Kinder größer sind, haben wir Vorstellungen davon, was Kinder tun sollten und es gibt Anweisungen und Planungen, die oft wenig mit dem zu tun haben, was die Kinder brauchen oder was aus ihrem eigenen Inneren heraus entsteht.

Wir können teilhaben an dem, was unser Kind erlebt

Weniger tun, weniger eingreifen und einfach einmal mit freundlicher Neugier und Offenheit zu beobachten, was entsteht, kann aber eine tiefe und bereichernde Erfahrung sein. Unser Eingreifen setzt ja im Grunde eine ständige Anspannung voraus, auch ein Misstrauen gegenüber den Fähigkeiten, die sich aus sich selbst heraus entfalten können. Sich dieser Anspannung bewusst zu werden und sich über die Anspannung hinweg für Geduld und Vertrauen zu entscheiden, erweitert den Horizont und ermöglicht allen, zu wachsen und in Kontakt mit den eigenen inneren Bedürfnissen und Fähigkeiten zu kommen. Natürlich werden wir dieses "weniger tun" nicht gerade dann praktizieren, wenn unser Kind mit dem Laufrad auf eine befahre Kreuzung zurollt. In vielen anderen Situationen aber können wir Kindern und uns selbst durch unsere freundliche Präsenz vermitteln, dass wir da sind und neugierig auf das, was entsteht. Wir können teilhaben an dem, was unser Kind erlebt und auf diese Weise tieferes Vertrauen und Verbundenheit erleben.

Auch für uns selbst können wir lernen öfter ganz bei uns selbst zu sein, nichts zu wollen, nichts zu planen, nichts zu forcieren. Manchmal ist dies die schwierigste Übung überhaupt. Die inneren Stimmen, die uns antreiben, können sehr laut werden, wenn wir versuchen uns von ihnen abzuwenden. Es ist auch nicht leicht, nichts zu tun, wenn sich die Termine überschlagen und Arbeit an jeder Ecke lauert. Und doch unterstützen wir uns sehr in unserem eigenen Reifen, wenn wir Zeiten einrichten, in denen wir einfach nur da sind und mit wohlwollender Offenheit wahrnehmen, was jetzt in diesem Moment da ist und sich entwickelt, weil wir nicht eingreifen. Dies bedeutet nicht, passiv oder lethargisch zu sein. Es bedeutet im Gegenteil wach zu werden und mit größerer Leichtigkeit auf das zu reagieren, was kommt und getan werden will.

Im Zusammensein mit kleinen Kindern erfahren wir oft, wie überraschend, lebendig und neu alles ist, wenn wir uns Menschen, Situationen und Dingen in einer Haltung der Neugier und der Offenheit nähern. Kinder stehen am Anfang: Sie forschen, sie stellen Fragen, sie sind neugierig und lange Zeit davon überzeugt, dass ihnen nur das Allerbeste begegnet. Wir Erwachsenen haben dagegen bereits viele Erfahrungen gemacht und leben eher auf eingefahrenen Gleisen, lassen uns davon abhalten, neue Erfahrungen zu machen oder „wissen sowieso schon, was dabei rauskommt“ – und zwar mit ziemlicher Sicherheit! Erfahrungen aus der Vergangenheit bestimmen unsere Erwartungen an die Zukunft – das Erleben im unmittelbaren Augenblick, das Dasein im Hier und Jetzt geht dabei oft verloren. Für unser Alltagsleben ist es natürlich wichtig, dass wir gewisse Erfahrungen gemacht haben und uns auch auf unser Wissen verlassen können. Wir müssen nicht immer wieder die Hand auf die heiße Herdplatte legen um zu wissen, dass man sich daran verbrennt. Es erspart uns auch Zeit und Mühe, dass wir den Weg zum Lebensmittelmarkt nicht jeden Tag neu suchen müssen.

Was auf unseren täglichen Wegen ist heute anders als gestern?

Für kleine Kinder aber ist die Welt noch voller Wunder in der es jeden Moment etwas Neues zu entdecken gibt. Die eigenen Hände, die vor dem Gesicht auftauchen und verschwinden, Blätter, die sich im Wind bewegen, ein Käfer im Laub oder ein kleiner Riss in der Tapete, alles wird registriert, beobachtet und erforscht. Auf diese Weise machen sich unsere Kinder vertraut mit sich selbst, sie lernen die Reaktionen ihrer Eltern kennen und erfahren die Welt, die sie umgibt. Was passiert wenn...? Was geht, was geht nicht....? Wer bin ich in der Welt der Wunder?

Vermeintlich Bekanntes neu zu entdecken und sich immer wieder neu zu öffnen ist eine Lebenskunst, die wir mit und durch unsere Kinder wieder erlernen können. Dies bedeutet, sich Menschen und Dingen weniger wissend als fragend zu nähern und uns für die Möglichkeit zu öffnen, dass Wissen zu sammeln und anzuwenden ein sehr beschränkter Weg ist, um mit der Welt in Kontakt zu kommen.

Wir können einmal eine Übung daraus machen, uns bewusst für etwas zu öffnen, das wir zu kennen glauben und wahrzunehmen, was uns Neues begegnet. Was auf unseren täglichen Wegen ist heute anders als gestern? Schmeckt der Apfel anders, wenn wir ihn langsamer essen? Und fühlt sich das Gras unter unseren Füßen im Frühling anders an als im Sommer? Wenn wir mit Kindern leben und wachsen liegt es nah, dass sich unsere Wahrnehmung für kleine Dinge verfeinert. Für Kinder steckt die Welt noch voller Wunder. Sie gemeinsam wahrzunehmen wirkt Wunder in uns selbst und bringt Freude, Schönheit und Leichtigkeit in unser Leben.

Über die Autorin

Julia Grösch ist Achtsamkeitslehrerin, Redakteurin unserer Zeitschrift und freie Autorin. Mehr über Julia und ihr Angebot erfahrt ihr auf ihrer Website: www.achtsamkeit-da.de

Bildnachweis: © WOHER STAMMT DIESES FOTO??