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Zuhören ist Magie: Es verwandelt eine Person von einem undurchsichtigen, vage drohenden, äußeren Objekt in eine intime Erfahrung und deshalb in einen Freund. So macht das Zuhören den Zuhörer weich und transformiert ihn. Zuhören ist grundlegend und wesentlich, weil es den Boden darstellt, aus dem all die Früchte unserer menschlichen Beziehungen hervorwachsen. Zuhören erfordert totale Offenheit dem anderen gegenüber, und totale Offenheit erfordert Hingabe.

Aus diesem Grund macht Zuhören Angst, obwohl wir gewöhnlich nicht so denken. Zuhören erfordert eine Art furchtlosen Selbstvertrauens, das die meisten von uns nie entwickelt haben. Selbstvertrauen ist nicht Eigendünkel. Eigendünkel ist ein bei sich selbst Hängenbleiben, bei dem man vielleicht ganz unbewusst darauf besteht, alles durch die Brille der eigenen Interessen, der eigenen Intelligenz, der eigenen Sichtweisen, Fähigkeiten und Meinungen zu sehen. Bei zu viel Eigendünkel ist Zuhören unmöglich.

Wahres Selbstvertrauen ist etwas anderes. Es ist nicht Vertrauen in dein oberflächliches Selbst, in deine Titelgeschichte, deine Sichtweisen, Fähigkeiten und deinen Lebenslauf. Es ist, im Gegenteil, die Bereitschaft, all dies für eine Weile beiseite zu lassen zugunsten eines Vertrauens in dich selbst, das über die Oberfläche dessen, was du bist, hinausreicht.

Wenn du wirklich Selbstvertrauen besitzt, bist du flexibel im Hinblick auf das Ego: Du kannst es, wenn notwendig, aufnehmen, aber es auch, wenn nötig, ablegen, um durch Zuhören etwas vollkommen Neues zu lernen. Und wenn du feststellst, dass du dein Ego nicht ablegen kannst, dann weißt du wenigstens, dass dies so ist. Du kannst es dir eingestehen. Es erfordert tiefes Selbstvertrauen, um demütig genug zu sein, die eigenen Begrenzungen ohne Selbstvorwürfe zu akzeptieren. Wenn du das kannst, dann wirst du sehr bald zuhören können.

Zuhören bedeutet, von Grund auf empfänglich zu sein für das, was stattfindet

Nächstes Mal, wenn du eine Unterhaltung führst, achte darauf, wie du zuhörst. Stell nicht einfach nur auf Autopilot. Denke stattdessen darüber nach, was tatsächlich abläuft. Es besteht die Chance, dass du feststellst, dass du öfter nicht zuhörst als zuhörst, wenn jemand spricht. Du hörst vielleicht mehr oder weniger, was die Person sagt, bekommst die Gesamtrichtung des Gespräches mit, aber du überlegst dir wahrscheinlich schon die Bemerkung, die du bald machen wirst, um das Gehörte zurückzuweisen oder ihm zuzustimmen, oder hast sie bereits im Kopf.

Vielleicht unterbrichst du, vielleicht verlierst du die Aufmerksamkeit, denkst an etwas anderes, oder dein Geist verliert sich ganz sachte im Nichts. Tagträumen ist eine solch unbewusste Gewohnheit, dass sie viel verbreiteter ist, als irgendjemand von uns bemerkt. Da man so oft nicht wirklich zuhört, sondern von seinen eigenen Geistesgewohnheiten absorbiert ist, verpasst man wahrscheinlich etwas, irgendeine Information oder Entdeckung über sich selbst oder die andere Person oder die Welt, irgendeine Neuigkeit.

Es ist in der Regel nichts Neues, das uns geistig beschäftigt. Es ist der Rückstand von dem, was wir gelernt, uns erhofft oder gefürchtet haben oder was uns verletzt hat. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht – wir verfolgen fast immer Strategien, während wir uns mit anderen unterhalten – indem wir versuchen, einen Vorteil für uns zu finden oder uns vor etwas Fremdem oder Unbekanntem zu schützen.

Die Kunst des Zuhörens erlernen

Wir hören überhaupt nicht zu. Wenn wir jedoch in dieser Welt der Unterschiede – in einer Welt, in der wir dauernd mit einer vollkommen andersartigen, unbekannten Person nach der anderen konfrontiert sind (sogar diejenigen, die wir kennen und mit denen wir viele Jahre lang zusammen leben, sind uns oft vollkommen unbekannt) – einigermaßen glücklich überleben wollen, sollten wir besser die Kunst des Zuhörens erlernen.

Wirklich zuhören bedeutet, all unsere Schutzmechanismen so weit wie möglich abzulegen, zumindest für die Zeit des Zuhörens. Zuhören heißt dazu bereit sein, einfach bei dem zu sein, was man hört, ohne zu versuchen, sich etwas auszudenken oder Kontrolle über das Gehörte auszuüben. Zuhören bedeutet, von Grund auf empfänglich zu sein für das, was stattfindet. Um das zu tun, muss man ehrlich sich selbst gegenüber sein. Man muss sich seiner Vorurteile, Wünsche und Selbsttäuschungen bewusst sein – all dessen, was einen nicht zuhören lässt, und dies akzeptieren. Aber man muss auch bereit sein, diese Vorurteile, Wünsche und Selbsttäuschungen beiseite zu legen, damit man das, was der Sprecher sagt, als das, was es ist, hören kann.

Weil wirkliches Zuhören erfordert, dass man dies tut, ist Zuhören gefährlich. Es könnte dazu führen, dass man etwas hört, das einem nicht gefällt, dass man dessen Triftigkeit erwägt und deshalb etwas denkt, das man nie zuvor gedacht hat – oder etwas fühlt, das man noch nie gefühlt hat und vielleicht niemals fühlen wollte. Dieses Gefühl könnte etwas in einem geschehen lassen, das noch nie geschehen ist. Das ist das Risiko des Zuhörens, und deshalb wollen wir automatisch nicht zuhören. Aber Zuhören ist eine Notwendigkeit, gleichgültig wie gefährlich es sein mag.

Die Magie des Offenseins und Zuhörens

Wenn du dem Leben und Wandel gegenüber offen bleiben willst, musst du zuhören. Zuhören, wirklich zuhören, bedeutet Respekt erweisen. Ohne Respekt kann keine menschliche Beziehung normal funktionieren, denn der Schmerz und die Verletzungen, die unvermeidlich durch Mangel an Respekt entstehen, pervertieren sie am Ende. Wenn dein Geist (gewöhnlich ganz unbewusst) mit deinen eigenen Gedanken, Plänen, Strategien und deiner Verteidigung beschäftigt ist, hörst du nicht zu. Und wenn du nicht zuhörst, bist du nicht respektvoll. Der Sprecher merkt das und reagiert dementsprechend.

Man muss kein Medium sein, um zu wissen, dass jemand nicht richtig zuhört. Wir wissen alle, ob man uns zuhört oder nicht. Aber wir sind so daran gewöhnt, das man uns nicht zuhört, dass wir es als selbstverständlich hinnehmen und sogar für normal halten. Deshalb überrascht es uns so und liegt so viel Macht darin, ja fast Magie, wenn jemand wirklich offen ist und uns hört.

Wieso es wichtig ist, dir selbst zuzuhören

Die vielleicht verbreitetste und schädlichste Art des Nicht-Zuhörens besteht darin, dass wir uns selbst nicht zuhören. So vieles von dem, was wir tatsächlich fühlen und denken, können wir nicht akzeptieren. Wir sind unser Leben lang konditioniert worden, all unser Selbstmitleid, unseren Zorn, unsere Wünsche, unsere Eifersucht und unser Staunen einfach nicht zu hören. Die meisten unserer Reaktionen, die wir für erwachsen halten, sind nicht mehr als unsere unbewussten Entscheidungen, nicht auf das zu hören, was in uns abläuft. Und wie in jeder menschlichen Beziehung schadet es unserem Selbstrespekt, wenn wir uns selbst nicht zuhören. Es verhindert den freien Fluss der Liebe von uns selbst zu uns selbst.

Jeder gesunde, reife Mensch muss sich erlauben, zu fühlen, was er wirklich fühlt – keine Angst haben oder bestürzt sein, sondern in seinem Herzen einen Raum schaffen, der weit genug ist für das, was er fühlt, mit dem Vertrauen, dass er mit allem, was hochkommt, arbeiten kann und es sogar notwendig ist – und das bringen wir so oft nicht fertig.

Die Praxis des Zuhörens hat viele Tiefen und viele Dimensionen. In „Zen-Geist, Anfänger-Geist“ sagt Suzuki Roshi, dass wahres Zuhören von dem, was er den Anfänger-Geist nennt, kommt – dem Geist, der bereit ist, für Überraschungen empfänglich und offen zu bleiben. Solch ein Geist ist immer bereit und wach, gewillt, das aufzunehmen, was kommt. Er hat wenig vorgefasste Meinungen. Anders als der Geist eines Experten, der alles durch seine Sachkenntnis filtert, ist der Geist eines Anfängers unvoreingenommen und fruchtbar.

Bereit zu sein, in diesem Moment zu leben

Zuhören erfordert Anfänger-Geist, denn niemand kann ein Experte sein für etwas, was noch nie zuvor auf genau diese Weise in genau diesem Moment gehört wurde. Zuhören bedeutet, bereit zu sein, in diesem Moment zu leben und sich ungehindert von vorher Geschehenem dem zu stellen, was wirklich neu ist.

„Wenn dein Geist leer ist, ist er immer für alles bereit, für alles offen“, schreibt Suzuki Roshi. „Der Anfänger-Geist hat viele Möglichkeiten, der Experten-Geist wenige.“

Ein anderer Zen-Ausdruck für diesen fruchtbaren, leeren, zuhörenden Geist ist der „Ich-weiß-nicht-Geist“. Die Feststellung „ich weiß nicht“ bedeutet nicht Unwissenheit, Dummheit oder sogar Demut; sie deutet viel mehr auf diesen bereiten, fruchtbaren, empfänglichen Geist hin, der keine vorgefassten Meinungen und Identifikationen hat, die als Barrieren gegen das, was hereinkommen möchte, aufgebaut werden müssen.

Als ein alter Zen-Meister einmal über diesen „Ich-weiß- nicht-Geist“ befragt wurde, sagte er: „Nicht wissen ist äußerst intim.“ Da Wissen uns Definitionen und Kontrolle gibt, ermöglicht es uns, die Welt eine Armeslänge auf Abstand zu halten. Wenn wir unsere Vorstellungen von und Vorlieben für das, was ist, geformt haben, brauchen wir uns keine Mühe mehr zu geben, aufmerksam zu sein. Nicht zu wissen hingegen lässt uns verletzlich und frei bleiben. Es bringt uns sehr nahe an Erlebnisse heran – ungeschützt und voll engagiert. Nicht wissen lässt uns mit dem, was wir erleben, eins werden. Wir lassen unsere Identität und Bewertung los und erlauben uns, uns dem Staunen hinzugeben.

Über den Autor

Norman Fischer alias Zoketsu ist Dichter und Priester des Zen-Buddhismus. Er gründete die Everyday Zen Foundation – eine Organisation, die die zen-buddhistische Einstellung und Praxis in den westlichen Alltag integriert. Dort ist er Vorstand und als Lehrer tätig. Er lehrt international in zahlreichen weiteren Einrichtungen und Organisationen.

Aus dem Buch: Unseren Platz einnehmen

Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Oktober 2015

Bildnachweis: © David Dieschburg/photocase